Leute, die nicht lügen können
„Willkommen, Matrosen!“ Ein großer blonder Mann reichte ihnen die Hand. „Ich heiße Oliver. Meine Frau Sofia und das sind Emil und Anna, Viktor und Mathilda, Jakub und Izabela, Markus und Julia, Daniel und Alexandra“, stellte er sich und die anderen am Ufer stehenden Menschen vor.
„Bist du König in diesem Land?“, bellte ihn Wilhelm an.
Es folgten verwirrte Gesichtsausdrücke und eine bedepperte Antwort: „Nein …“
„Bring uns zum König oder zu jemandem, der hier regiert“, sagte Prokop.
Verständnislose Blicke wurden noch verständnisloser.
„Moment“, stieß Philipp die beiden herrischen und taktlosen Brüder sanft weg und fragte selbst: „Wir möchten mit jemandem sprechen, der für dieses Land sorgt und verantwortlich ist. Wer gibt Befehle und Ähnliches?“Oliver und seine Freunde verstanden sie immer noch nicht. Wie hätten sie auch sollen? Der Prinz und seine Gefährten befanden sich auf der Insel, wo die Menschen nur die Wahrheit sprachen. Und weil sie weder logen, noch erfanden, konnten sie diese Fragen nicht beantworten. Niemand regierte nämlich in diesem Land, niemand erteilte Befehle, es gab hier weder König, noch Kaiser, noch Herzog, noch Fürst, noch Präsident. Die Menschen brauchten niemanden, der ihnen sagte, was sie tun sollten. Sie selbst wussten es sehr gut. Jeder machte seinen Job, der Bäcker backte das Gebäck, der Schmied erzeugte die Metallwerkzeuge, der Maurer baute die Häuser, der Zimmerer fertigte die Dachstühle, die Schneiderin nähte die Kleider, der Koch kochte, der Schreiner stellte Möbel her. Jeder verrichtete Arbeit, die er konnte und die er von seinen Eltern gelernt hatte. Im Frühjahr säten sie gemeinsam das Getreide und legten die Kartoffeln, im Herbst ernteten sie und pflügten die Felder, im Winter reparierten sie landwirtschaftliche Maschinen, nahmen den Schnee von den Dächern und zogen durch die Straßen, im Sommer bewässerten sie die Felder und ausgedehnten Gärten. Sie trafen sich jede Woche bei einer Besprechung, während jeder verkündete, was er in der nächsten Zeit tun würde. Und er tat es wirklich, weil er nicht log. Er hätte nicht einmal daran gedacht, nicht zu tun, was er versprochen hatte. Sie lebten schon viele und viele Jahre so eingespielt, niemand musste jemanden kontrollieren. Jeder wusste, welche Arbeit sofort und welche später erledigt werden sollte. Daher fehlten menschliche Hände bei keiner Tätigkeit, keiner Mensch behinderte bei der Arbeit den anderen. Jetzt waren sie von den Fragen der Brüder und auch von Philipp überrascht und verwirrt. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten.
Mathilda sagte: „Wir haben euch aus der Ferne gesehen, daher sind wir hierhergekommen. Ihr seid sicher hungrig, wir haben für euch etwas zu essen vorbereitet.“
„Kommt mit uns“, forderte Sofia sie auf. Die freundliche Gruppe ging zu einem großen, nah gelegenen Gebäude mit strahlend weißer Fassade. Philipp und seine Gefährten folgten ihr.
Der Bau diente als Gemeinschaftshaus und wurde einfach „Großes Haus“ genannt. Die Inselbewohner ließen ihre Gäste an einem langen Tisch Platz nehmen und breiteten viele Delikatessen aus. Die Besucher machten sich hungrig übers Essen her.
Das letzte Mal hatten sie die Aale auf der Leopardeninsel gegessen, dann bescheidene Portionen auf der Magnetinsel mit den Kratern und auf dem Schiff hatten sie die Lebensmittel für schlechtere Zeiten gespart. Sie waren davon ausgegangen, für eine längere Zeit ziellos im Meer herumzustreifen. Die Delfine hatten ihre prekären Aussichten erheblich verkürzt und ihnen höchstwahrscheinlich das Leben gerettet. Ohne sie hätten sie diese Insel nie erreicht.
Diskussion
Philipp schilderte, was sie erlebt hatten. Er erzählte von gräulichen Erlebnissen auf der Leopardeninsel, dem Verlust von drei Besatzungsmitgliedern, Dagomar, Johannes und Hugo. Die Erinnerung an Johannes trieb ihm Tränen in die Augen, sie war zu lebendig und schmerzhaft. Sebastian beschrieb den schrecklichen Sturm und seine katastrophalen Folgen, den zerbrochenen Hauptmast, die zerstörten Segel und Rahen. Tobias sprach begeistert von der holdseligen Delfinfahrt. Die Brüder Wilhelm und Prokop kamen als Letzte zu Wort und beklagten sich über ihr hartes Schicksal. Alle schwiegen über den mit dem Fischausnehmen „bunt gestalteten“ Aufenthalt auf der ersten Insel.
Die Gastgeber staunten über die Schilderung aller Ereignisse und konnten nicht verstehen, dass ihr Land der Bestandteil der Mondinseln sein sollte, die nur beim Vollmond erscheinen.
Der wissbegierige Jakub fragte: „Philipp, nachdem, was du sagtest, sollte euer Land Askaria von uns im Meer in Sicht sein, aber nur einmal in 28 Tagen.“
„Grundsätzlich ja“, antwortete Philipp.
„Aber wir haben noch nie ein Land oder eine Insel in der Ferne gesehen.“
„Der Sturm hat uns vielleicht zu weit von unserem Land getrieben“, grübelte Sebastian.
„Und die Delfine haben uns noch weiter fortgeschleppt“, ergänzte Tobias.
So ist es, nickten die Einheimischen zustimmend. Sofern Sebastian und Tobias es sagten, so würde es wahr sein. Die Inselbewohner vertrauten ihnen ihre Lebensweise und ihre natürliche Arbeitsteilung an. Sie erwähnten jedoch nichts von Schiffbau und Reisen.
Das war Philipp, der sich danach sehnte, neue Welten kennenzulernen, fremd. Er fragte: „Habt ihr diese Insel jemals verlassen?“
„Nein“, schüttelte Oliver den Kopf.
„Habt ihr schon mal andere Inseln im Meer gesucht?“
„Nein.“
„Habt ihr euch jemals dafür interessiert, was sich in eurer Umgebung befindet?“
„Nein.“
„Aber warum nicht?“
Die Insulaner erklärten: „Es ist uns nie in den Sinn gekommen.“
„Es fehlt uns hier an nichts.“
„Im Meer ist es zu gefährlich.“
Die hiesigen Leute konnten nicht lügen, aber sie brauchten auch nicht etwas Neues, etwas Unbekanntes zu entdecken.
Sie waren zufrieden mit dem, was sie hatten. Ihre Welt funktionierte ohne Lügen und Täuschung, sie mussten sich nichts beweisen, sie mussten niemanden manipulieren. Nichts trieb sie, in andere Länder vorzudringen und diese zu beherrschen. Sie trachteten nicht nach Ruhm und Reichtum und diese Begriffe sagten ihnen nichts.
Julie nahm es von der praktischen Seite: „Wir müssten zuerst Bäume fällen und Schiffe bauen.“
„Du kennst Schiffe?“, staunte Sebastian.
„Manchmal erscheinen Schiffe wie das eure hier.“
„Die Matrosen haben Trinkwasser geschöpft, Lebensmittel eingeladen und uns dafür verschiedene Dinge gegeben und dann sind sie weitergefahren“, ergänzte Markus, ihr Ehemann.
„Was haben euch die Matrosen erzählt?“, interessierte sich Tobias.
„Alles Mögliche, aber zum ersten Mal hören wir von einem Mann, der als König bezeichnet wird und der am besten weiß, was andere Leute tun sollen“, wendete Alexandra ein.
Sebastian und Tobias brachen in Lachen aus. Philipp, obwohl ein königlicher Nachkomme, lachte ebenfalls herzlich. Die Brüder Wilhelm und Prokop wussten nicht, ob sie vergnügt oder empört schauen sollten. Alexandra guckte überrascht.
Philipp sagte ihr: „Alexandra, wir lachen nicht dich aus. Wir lachen, weil wir euch nicht erklären können, wer der König ist.“
Julie sprach etwas aus, was der Schiffsbesatzung den Atem nahm: „Wir bringen euer Schiff in Ordnung, bauen einen neuen Masten, neue Segel und Rahen.“
Der Prinz und seine Gefährten sahen sie dankbar und bewundernd an. Das war die Frau von heute! Sie verstand etwas von Wasserfahrzeugen, obwohl noch kein einziger Nachen auf der Insel gebaut wurde. Trotzdem wusste sie, was benötigt wurde!
Tobias stand vom Tisch auf, kniete sich vor Julia, nahm ihre Hand, küsste diese zeremoniell und sagte: „Julie, wir danken, du bist eine wundervolle und kluge Frau!“
Julie zuckte überrascht zurück, auch an das Knien vor der Dame und Küssen des Händchens waren die Inselbewohner nicht gewohnt. Sie fanden es daher sehr komisch und fingen an, laut zu lachen. Philipp, Tobias und Sebastian schlossen sich ihnen an und so lachten alle, dass die Gläser auf dem Tisch sprangen. Den Reisenden wurde leicht ums Herz. Die Delfine hatten sie auf die richtige Insel geschleppt. Von diesen Menschen drohte ihnen keine Gefahr. Besser hätte es nicht ausgehen können.
Aufgabenverteilung
Im Zentrum der Insel ragte ein hoher Berg empor. An seinem Hang entsprang ein Fluss, er fiel scharf ins Tal hinab, glitt träge durchs Tiefland und floss ins Meer. Rund um den unteren Strom breitete sich fruchtbarer Boden aus, deshalb bewirtschafteten die Menschen dort Felder, Obstgärten und Gärten.
Entlang des wohltuenden Wassers konzentrierten sich die meisten Behausungen, der Rest lag etwas höher im hügeligen Gelände verstreut.
Auf Anregung der praktischen Julie beschlossen die Frauen, den Seglern neue Segel zu nähen und die zerrissene Takelage zu reparieren. Die Männer vereinbarten, einen neuen Masten und Rahen zu fertigen. Als sie die Schäden im Schiff sahen, zerstörte Möbel und Tische ohne Füße, versprachen sie sogar eine neue Ausstattung der Kajüte.
Aber bis das Schiff repariert wäre, mussten die Seemänner aus Askaria einige Dauer auf der Insel bleiben. Philipp, Sebastian und Tobias zogen zu einer älteren Dame ins Häuschen im Flachland am Fluss ein. Sie hieß Martha, war seit kurzer Zeit verwitwet und froh, dass männliche Hände im Haus halfen. Die Brüder Wilhelm und Prokop wollten allein sein, niemanden stören, so ließen sie sich in einer kleinen Datsche für zwei Personen am Berghang nieder.
Es kam der Tag, an dem sie die Aufgaben verteilten. Alle trafen sich im Großen Haus an der Küste. Sie versammelten sich jede Woche auf diese Weise, weil es immer eine Leistung gab, die eilte und den Vorrang vor anderen Tätigkeiten hatte. Meistens handelte es sich um Saisonarbeit, für die sich die Leute interessierten, die bereits Erfahrung mit dieser Arbeit hatten und momentan nichts Dringenderes tun mussten.
Zu Beginn der Besprechung ergriff Philipp das Wort: „Liebe Freunde, wir danken euch für die freundliche Aufnahme und die herzliche Gastfreundschaft. Wir werden euch dankbar sein, wenn ihr uns auch Arbeit erteilt. Wir wollen hier nicht untätig sitzen und warten, bis ihr uns das Schiff repariert.“
Die Brüder Wilhelm und Prokop runzelten die Stirn, mit diesem Vorschlag hatten sie nicht gerechnet. Die Inselbewohner rechneten es dem Prinzen hoch an und überlegten angestrengt, welche Aufgabe sie wählen sollten.
Tobias wusste sofort, was er tun wollte: „Ich bin Zoologe und möchte mich um Tiere kümmern. Ich habe bemerkt, dass ihr Rinder und Pferde züchtet.“
„Tobias warte, bis du an die Reihe kommst, heute fangen wir bei H an“, verwahrte sich Hana.
Tobias öffnete überrascht den Mund und Hana erklärte ihm, wie es bei ihnen funktionierte: Zu Wort meldeten sie sich immer in alphabetischer Reihenfolge mit wechselnden Anfangsbuchstaben. In einer Woche sprachen die zuerst, deren Vornamen mit dem Buchstaben C begann, dann schlossen die Menschen mit dem Anfangsbuchstaben D an, so ging es weiter bis zum Z und schließlich gaben die Menschen ab dem Beginn des Alphabets ihre Aktivitäten bekannt, also deren Namen mit A und B anfingen. In der nächsten Woche begann es mit dem Buchstaben D und so wechselte es stets ab. In dieser Woche stand der Buchstabe H auf der Tagesordnung und Hana sollte als Erste sprechen.
„Hana, ich wollte dich nicht übergehen, ich wusste nicht, wie es geht“, verteidigte sich Tobias.
„Hana meinte es nicht böse“, meldete sich Harald zu Wort, im Alphabet kurz nach ihr, und fuhr fort: „Aber wenn du etwas von Tieren verstehst, kannst du sofort bei uns auf dem Bauernhof beginnen, damit wir auf das Feld gehen können.“
Auf den Feldern lief gerade die Ernte, in den Obstgärten reiften die Früchte heran, sodass es notwendig war, alle Kräfte dort zu vereinen.
Hana, Harald und Helga teilten mit: „Wir pflücken Pfirsiche und Aprikosen.“
Helmut, Ingmar, Jana und Johannes bereiteten sich auf die Ernte vor: „Wir mähen den Weizen.“
Ingeborg, Iris und Ivonne: „Wir pflücken Blaubeeren, machen Marmelade und backen Kuchen.“
Und es fielen weitere die Ernte betreffende Sätze:
„Wir ernten grünen Roggen.“
„Wir pflügen Gerste.“
Philipp schloss sich der Brigade an, die Blätterkohl und Kraut erntete.
Sebastian erklärte: „Ich gehe dorthin, wo ihr mir sagt.“
Als die Einheimischen erfuhren, dass er Astronom war, schickten sie ihn zum Schmied. Er sollte ihm helfen, die Sonnenuhr und Metallplastiken herzustellen, die einzelne Sternbilder darstellten. Sie mussten sein Wissen ausnutzen, solange er hier war. Die eisernen Skulpturen würden dann im Großen Haus platziert.
Beim Buchstaben W schaute Philipp den beiden Brüdern herausfordernd und scharf in die Augen und fragte: „Was ist mit euch beiden, was werdet ihr machen?“
Die überheblichen Geschwister sahen ihn feindselig an. Als Mitglieder der königlichen Familie sollten sie doch von allen Arbeiten ausgeschlossen werden! Philipp erinnerte sich, dass seine Vettern auf der Insel, auf der sie die Fische ausnehmen mussten, versucht hatten, jede Arbeit zu vermeiden. Warum sollten sie sich hier anders verhalten? Aber auf dieser Insel würde er von Anfang an andere Regeln aufstellen. Deshalb stichelte er gegen die Brüder: „Bei P hast du, Prokop, geschwiegen. Ich setze also voraus, dass ihr euch vorher auf eine gemeinsame Aufgabe geeinigt habt und dass Wilhelm sich jetzt meldet.“
„Oder vielleicht möchtet ihr euch nicht eingliedern?“, setzte Tobias hinzu und lächelte spöttisch.
Die freundlichen und wahrheitstreuen Bewohner der Insel verstanden diese Wortspiele nicht und bemühten sich ehrlich, den Brüdern bei der Wahl einer Arbeit zu helfen.
Der gutherzige Jakub schlug ihnen vor: „Es ist trocken, ihr könnt euch um das Gießen kümmern.“
„Das könntet ihr bewältigen“, kommentierte Philipp den Vorschlag.
„Natürlich, Philipp, das bewältigen wir gut“, log Prokop verbissen.
„Und sehr gern“, übertrumpfte ihn Wilhelm im Lügen.
Sie bekamen also die Aufgabe, die Tomaten und Paprikas zu gießen. Die Brüder machten mürrische und missmutige Gesichter bis zum Ende der Sitzung. Rita fragte sie vorsichtig, ob sie Bauchschmerzen hatten und etwas zur Verdauung benötigten.
Die Arbeit war aufgeteilt und jeder ging wieder seinen eigenen Weg, genauer gesagt seiner eigenen Arbeit nach.
Leseprobe Buch Mondinseln
Erschienen im Harderstar Verlag, 14. Dezember 2022
https://www.harderstar.nl/product-page/mondinseln
https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1067400691