Sie gingen den Waldweg entlang, untersuchten jede Ecke aufmerksam und sorgfältig und suchten nach Spinnweben. Sie sahen genug verschiedene Spinnen, aber erst am Abend erblickten sie die Richtige. Die Spinne mit der weißen Lilie auf dem Rücken. Das Spinnennetz hing zwischen den Zweigen eingeklemmt, jedoch der Pfeil auf der Blüte zeigte eine andere Richtung, als wohin der Weg führte. Sie wandten sich daher in Pfeilrichtung.
In der Ferne hörten sie ein Baby weinen. Sie eilten der Stimme nach und fanden bald ein kleines im Gebüsch verstecktes Häuschen. Die Tür des Häuschens war in keiner Weise verschlossen, also traten sie ein. Eine zu Tode erschrockene und verängstigte junge Frau drückte hier ein kaum einjähriges Kind an sich. Neben ihr stand ein Mann mit hasserfülltem Blick.
„Was machst du hier?“, schnauzte der Mann Tobias an.
„Ich suche einen Tempel mit einer weißen Lilie auf dem Turm.“
„Und nicht ein Kind?“
„Ich suche kein Kind, warum?“
Der junge Mann ignorierte die Frage und fragte etwas leiser: „Bist du allein gekommen?“
„Nein, ich bin mit Tara hier.“
„Wer ist das?“
„Kannst du nicht sehen?“ Tobias zeigte auf seine getreue Freundin.
„Oh, das“, atmete der junge Mann auf. Er war sichtlich erleichtert.
„Wieso das? Wie hast du das gemeint?“, reagierte Tara gekränkt.
„Ich habe es nicht so gemeint, Madame“, stammelte der fassungslose Mann.
„Ich bin keine Madame, ich bin eine Wölfin“, ärgerte sich Tara zum Schein.
Der junge Mann wusste nicht, wohin er schauen und was er sagen sollte.
Tobias schmunzelte im Geiste. Er trat auf das Mädchen zu und wollte das Baby streicheln, das sie in ihren Armen hielt. Die junge Mutter zuckte ängstlich zurück.
„Schreckt es dich so ab, wie ich aussehe?“, fragte Tobias enttäuscht.
„Oh nein, Johanna hat Angst vor allen“, erklärte ihr Partner.
„Aber warum?“, staunte Tobias.
„Schade um die Worte“, machte der junge Mann eine abwehrende Handbewegung.
„Ich fürchte, dass sie mir Kaja wegnehmen“, schluchzte Johanna. Dann fing sie an, zu weinen, sodass sie nicht sprechen konnte.
Der Mann legte seine Hände um ihre Schultern und seufzte. „Ich erzähle es euch …“
Der Junge, der sich als Jens vorstellte, erzählte eine Horrorgeschichte. Das Land, in dem sie lebten, wurde von dem schrecklichen Monster Moghera kontrolliert. Niemand wusste, woher es kam. Es hatte einen Körper, der so groß war wie ein Haus, fünf Köpfe, die Feuer spien und alle Lebewesen verbrannten, und sechs Hände wie Tentakel mit Krallen daran. Es bewegte sich mithilfe von seltsamen Beinen, die keine Schritte machten, sondern auf dem Boden rutschten. Niemand konnte es töten, niemand konnte es zerstören oder vernichten. Seine Haut widerstand allen Geschossen und Pfeilen. Alles glitt an ihm ab, wie Wasser von Glas.
Und diese Kreatur verlangte unaufhörlich die Opfer. Die Kinder. Wenn die königlichen Berater ihr nicht gaben, was sie wollte, würde sie Städte und Dörfer niederbrennen. Die Rauter, so werden die Jäger der Kinder genannt, stahlen die Kinder in menschlichen Siedlungen und warfen sie dem Ungeheuer Moghera vor.
Unglückselige und verzweifelte Menschen versteckten ihre Nachkommen, wo sie nur konnten. Aber diesen Unglücksmenschen half nichts, die Rauter spürten die Kinder auf und trugen sie weg. Sie überfielen oft die armen Eltern nach Anzeige durch die Nachbarn oder Verwandten, die befürchteten, dass man ihr Dorf oder ihre Stadt niederbrennen könnte. Allmählich hörten die Frauen auf Babys zu gebären, langsam drohte, dass das Ungetüm seine Drohungen erfüllen würde. Die Jäger der Kinder kämmten das ganze Land immer intensiver durch. Und wenn ein Paar existierte, dass es wagte, ein Baby zu haben, mussten sie es weit entfernt von den Leuten verstecken und in Entsetzen und Angst leben, dass die Rauter kommen würden. Genauso wie Johanna und Jens. Sobald sie sicher waren, dass Johanna ein Kind erwartete, warteten sie nicht und flohen in den Wald.
„Das ist schrecklich“, schauderte Tobias, als Jens die Erzählung abschloss. „Und was esst ihr hier im Wald?“
„Unten, in der Nähe des Waldes gibt es eine Schafhütte. Von Zeit zu Zeit kommt Jens herunter und besorgt Essen, vor allem Milch für Kaja“, krächzte Johanna mit weinerlicher Stimme.
„Der Besitzer der Schafhütte weiß nicht, wo wir leben, er glaubt, dass ich aus dem Dorf komme“, erklärte Jens.
„Und er gibt dir das Essen so einfach?“, wollte Tara wissen.
„Ich tausche es gegen das, was ich erjage“, Jens wendete seinen Blick zu Pfeil und Bogen, die an der Wand hingen.
Im Wesentlichen konnten sie für sich sorgen. Aber das unersättliche Monster forderte ein weiteres Opfer.
Leseprobe aus dem Buch Die Wölfin Tara, Harderstar Verlag, Dezember 2022, Illustrationen Jana Vlková